»Du, Regina [Name geändert] ist irgendwie genervt und unzufrieden mit Deiner Arbeit. Sie möchte, dass Du aus dem Projekt aussteigst. Das gebe ich Dir jetzt weiter, weil sie nicht mit Dir sprechen möchte.«
So der telefonische O-Ton des befreundeten Webentwicklers, mit dem ich derzeit an einem Onlineshop arbeite. Von gut gelaunt zu verwirrt in acht Sekunden – das schaffen sonst nur meine Nachbarn, wenn sie mich mal wieder an polnischen Cover-Versionen von Modern-Talking-Songs auf dem Balkon teilhaben lassen.
Gemischte Gefühle
Seit 2008 arbeite ich mittlerweile als Designer, aber so ein Feedback kriege ich zum ersten Mal. Für einen kurzen Moment wusste ich nicht, welches Gefühl in mir überwog: Verwunderung, Ärger oder Erleichterung.
Verwunderung darüber, dass Regina ihre Unzufriedenheit im Projektverlauf nicht hatte durchblicken lassen. Ärger darüber, dass sie den »Umweg« über meinen Projektpartner nahm und sich nicht direkt an mich gewandt hatte. Erleichterung darüber, dass Regina zum ersten Mal im Projekt die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Auch wenn letztlich die Erleichterung überwog, war es zunächst eine Mischung aus diesen drei Gefühlen, die sich in der Magengegend manifestierte. Dieses Kribbeln, von dem man nicht weiß, ob es nun etwas Gutes oder Schlechtes ist. Ich bin niemand, der es unbedingt jedem Menschen recht machen muss, aber so eine Rückmeldung von einer Kundin zu bekommen (noch dazu durch einen Dritten, der zum Sprachrohr auserkoren wurde), hat mich schon getriggert.
Was im Projekt vermeintlich schiefgelaufen ist.
Hätte ich die Gründe für Reginas Unzufriedenheit erraten müssen, wären mir die Dinge, die sie meinem Projektpartner mitgeteilt hatte, wohl als letztes in den Sinn gekommen: Ich sei zu passiv gewesen. Ich hätte nicht den Eindruck gemacht, als würde ich das Projekt voranbringen wollen. Sie habe mehr erwartet. Mehr Feedback. Mehr Euphorie. Mehr Ideen. Mehr Initiative.
Ich gebe zu, dass ich auf die Frage »Wie findest Du xyz?« im späten Projektverlauf nicht mehr in der für mich gewohnten Ausführlichkeit geantwortet habe. Das hatte aber eher damit zu tun, dass sich diese Frage eher rhetorisch anfühlte, da meine Antwort stets mit »Das sehe ich anders« oder »Also, ich finde das nicht modern« beantwortet wurde.
Hätte ein Mehr von allem es wirklich besser gemacht? Waren die 17 Stunden Zoom-Meetings binnen zwei Wochen zu wenig? Hätten wir die CSS-Definitionen der Startseite ein siebtes Mal auf links drehen sollen? Die Headlines statt bei 3.2 rem doch lieber bei 3.3 rem belassen müssen? Reichte möglicherweise die dreistündige Diskussion über Design-Themes für Wordpress nicht aus?
Ich habe die Warnzeichen gesehen. Und ignoriert.
Wenn ich es im Nachhinein betrachte, ohne die sprichwörtliche rosarote Brille, gebe ich zu: Die Warnzeichen waren da. Die Red Flags. Und ich habe sie ignoriert.
Was sind Red Flags?
Der Begriff Red Flags kommt aus der Medizin und beschreibt Warnzeichen, die man ärztlich abklären lässt, anstatt sie zu ignorieren. Im englischen Sprachgebrauch beschreibt der Begriff auch Warnzeichen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Beispiele für Red-Flag-Aussagen laut einer (nicht repräsentativen) Umfrage unter Designerinnen und Designern sind:
- »Das muss eine schnelle und billige Nummer werden. Aber die Projekte, die danach kommen, die werden richtig reinhauen.«
- »Der Job ist eigentlich super einfach …«
- »Mein vorheriger Designer hat mich gefeuert.«
- »Es ist kein Budget da, aber das Projekt wird sich super in Deinem Portfolio machen!«
- »Ich hatte schon mehrere Designer, …«
- »Ich kann’s nicht beschreiben. Ich weiß es, wenn ich es sehe.«
- »In Sachen Design kenne ich mich aus, das macht es sicherlich einfacher.«
Die Red Flags waren da. Schon im ersten Gespräch. Aber ich habe mich zu sehr begeistern lassen, weil das Projekt enorm interessant klang. Ich habe großes Potenzial gesehen, hatte Ideen und wollte am liebsten sofort loslegen. Dazu kam, dass ich nicht der direkte Projektpartner von Regina war, sondern vom Webentwickler ins Boot geholt wurde und ich eigentlich eine eher beratende Rolle in Sachen Design und Usability übernehmen sollte.
Zwar äußerte ich gegenüber meinem Projektpartner/-leiter meine Bedenken nach dem ersten Gespräch mit Regina, doch während wir so über die Möglichkeiten des Projekts schwadronierten, überwog die Motivation und drängte das ungute Gefühl im Bauch beiseite. Ich erinnere folgende Warnzeichen im ersten Gespräch mit Regina:
- Das Budget stand in keinem Verhältnis zu den Vorstellungen der Kundin.
- Die Kundin gab vor, in Sachen Wordpress, Suchmaschinenoptimierung (SEO) und Onlineshops bestens bewandert zu sein und betonte mehrfach, dass das Projekt im Grunde keine große Sache sei. (Es ging um den Relaunch von zwei Websites, die Implementierung zweier Online-Shops sowie den Relaunch eines bestehenden Shops.)
- Der bisherige Designer hatte die Zusammenarbeit beendet. Er sei unkooperativ gewesen und habe ihre Wünsche einfach nicht verstanden, so Regina.
Und weil sich Red Flags im Kollektiv am wohlsten fühlen, wurde aus ein paar anfänglichen kleinen Red Flags ein Meer von roten Fahnen, von der jede einzelne nur eine Frage hatte: Warum steigst Du nicht aus?
- Neverending Meetings. Mindestens einmal pro Woche fanden Videocalls statt; kaum einer war kürzer als drei Stunden. Ohne Agenda, ohne Plan und gefühlt ohne Ende. Feierabende aus dem Bilderbuch.
- Ein schwarzes Loch an Korrekturen. Sie nahmen kein Ende. Es gab etliche Änderungswünsche, die eingepflegt wurden – teils live in den Meetings, teils ohne Aufsicht. Und ohne, dass diese irgendwann irgendjemandem als nennenswerte Verbesserungen aufgefallen wären.
- Auf der Suche nach dem Content. Sportliche Deadline? Challenge accepted. Macht aber nur Spaß, wenn alle Projektbeteiligten mitziehen. »Willst Du gelten, mach Dich selten« funktioniert nicht aber bei Rückmeldungen und Inhalten, die die Kundin liefern soll.
- Ich weiß es, wenn ich’s sehe. Da vorab kein Budget investiert werden sollte, um sich über das Design abzustimmen, wurde ein Design-Template gekauft und es begann ein munteres Rätselraten. Wie, »modern« ist kein allgemeingültiger Begriff? Und sowas nennt sich Designexperte …
- Wenn man keine Ahnung hat, … Nicht selten stellte ich mir die Frage, warum ein studierter Webentwickler und Designer das Projekt betreuen, wenn die Kundin doch auf vieles eine Antwort hatte. (Immerhin habe ich von Regina gelernt, dass »Öffnungszeiten« ein wichtiges Keyword für eine Website ist.)
Warum ich nicht »Stopp« gesagt habe.
Nach jedem Videocall sagte ich mir: »So stelle ich mir eine Zusammenarbeit nicht vor. Ich bin raus.« Aber warum hatte ich meine nach jedem Meeting flammend verkündeten Worte nicht in die Tat umgesetzt, wenn ich mich doch ärgerte?
Worüber ärgerte ich mich überhaupt? Über Sprüche wie »Ihr seid die Experten, ich habe keine Ahnung, dafür habe ich Euch beauftragt« – um dann doch alles anders zu machen als wir es vorschlugen? Über die vergeudete Zeit in den Meetings oder das ständige Hin und Her, ohne dem Projektziel ein Stück näher gekommen zu sein? Oder darüber, dass ich nicht den sprichwörtlichen »Arsch in der Hose« hatte, um aus dem Projekt auszusteigen? Vielleicht auch das. Ganz bestimmt sogar.
Ich wollte aber meinen Projektpartner nicht hängen lassen. Er hatte mich als Designer empfohlen, weil wir bisher tolle Projekte miteinander umgesetzt hatten. Da wollte ich nicht einfach aussteigen. Auch Regina wollte ich nicht hängen lassen. Trotz der Widrigkeiten war mir das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit mitnichten egal. Obwohl das Projekt für mich zäh und frustrierend war, wollte ich mir nicht nachsagen lassen, dass ich schlechte Arbeit abgeliefert hätte. Daher machte ich jedes Meeting mit, passte das Design mehrfach an, holte einen Texter ins Boot, stellte den Kontakt zu einer Onlinemarketing- und SEO-Agentur her und beantwortete jede Frage.
Erforderte meine Rolle im Projekt das alles? Auf keinen Fall. Werde ich deshalb in Zukunft nur »Dienst nach Vorschrift« machen? Auf keinen Fall.
Was ich daraus lerne: Tipps für einen entspannteren Projektverlauf. Und eine aufrechtere Haltung.
Ich bin weder verärgert noch traurig, dass das Projekt so abrupt endete. Noch einmal muss ich es aber auch nicht haben. Am Ende gingen unsere Vorstellungen von dem, was ich tat und scheinbar hätte tun müssen, zu weit auseinander. Regina und ich haben als Businesspartner einfach nicht zusammengepasst und sie wird sicherlich (und hoffentlich) ebenso etwas gelernt haben wie ich.
Was ich aus dieser Erfahrung mitnehme und in Zukunft stärker berücksichtigen werde (weil ich selbst das eigentlich gegenüber befreundeten Designern und Partnern immer predige):
- Höre auf Dein Bauchgefühl. Von Anfang an. Wenn sich das Projekt spannend anhört, aber die Chemie zwischen Dir und der Kundin nicht zu stimmen scheint, lass es sein. Wenn die Chemie stimmt, Du beim Projektbriefing aber ein komisches Bauchgefühl hast, lass es sein. Du kannst nicht verlieren, was Du nie hattest, also sag das Projekt ab.
- Erstelle eine Agenda für jedes Meeting. Ein Meeting wird effektiver, wenn es eine Agenda gibt: Was soll besprochen werden? Was erhofft sich jeder vom Meeting? Was soll am Ende rauskommen? Das verhindert, dass man sich in (unwichtigen) Details verliert oder nur Kekse isst.
- Kläre die Zuständigkeiten. Eine klare Rollenverteilung sorgt dafür, dass alle Beteiligten wissen, was wann von ihnen erwartet wird. Liefert die Kundin Text, sollst Du texten oder wird ein Texter benötigt? Wer pflegt die Inhalte ein? Wer trifft Entscheidungen? (Idealerweise nur Personen, die beim Briefing dabei waren und nicht die beste Freundin der Kundin.)
- Gestaltungsfreiheit? Pfff. Vorsicht, Falle! Ein Wort wie Gestaltungsfreiheit sorgt zwar dafür, dass es Designer_innen warm am Bein herunterläuft, ist aber in den seltensten Fällen so gemeint. Hake genauer nach und sorge dafür, dass alle Beteiligten in puncto Designvorstellungen auf einen Nenner kommen.
p.s.: Die Website der Kundin sieht übrigens noch immer aus, als hätte sie bisher keine Fachleute aus Design und Programmierung gefunden. Verbuchen wir das mal unter »Karma« …